Die nächste Dimension der Zusammenarbeit - virtuelle Realität und Gender

Prof. Dr. Nicola Marsden, Prof. Dr. Tim Reichert, Kristian Gäckle

(Hochschule Heilbronn)

Workshop 13:30 – 14:30 Uhr

Ausgehend von der Frage, ob virtuelle Realitäten sexistisch sind, legten die Referent/innen in ihrem Impuls dar, dass das soziale Geschlecht in der Lebenswirklichkeit der Menschen einem reproduktiven Prozess unterliegt und Identitäten von Subjekten diskursiv erzeugt werden. Der Kommunikationsprozess ist entsprechend abhängig von Werten und Normen, die geschlechtsspezifisch aufgeladen sind. 

Wenn Kommunikation und Zusammenarbeit nun virtualisiert wird, stellt sich die Frage, in welcher Form Vergeschlechtlichungen dort weiterhin eine Rolle spielen. Nicola Marsden stellte verschiedene Herangehensweisen an computervermittelte Kommunikation dar, zeigte, wie sie in vernetzter Zusammenarbeit zum Tragen kommt und wie sich Kommunikation von Angesicht zu Angesicht mit virtueller Kommunikation vergleichen lässt. Häufig werden in erster Linie vermeintliche Vorteile der "persönlichen" Kommunikation betrachtet. Aber "virtuelle" Kommunikation bietet auch eine Reihe von Möglichkeiten, den Kommunikationsprozess neu zu gestalten – und sich somit auch von existierenden Zwängen der Vergeschlechtlichung zu lösen. 

Tim Reichert erläuterte anhand einer Reihe von Beispielen, welche neuen Möglichkeiten es durch virtuelle Realität gibt – und welche neuen Fragen sich daraus ergeben: Schüttele ich dem Avatar meiner Gesprächspartnerin zur Begrüßung die Hand oder was ist eine angemessene Form der Begrüßung? Wenn ich an einer Wand für eine Gruppe visualisiere, muss ich die "Kärtchen" dann dort "anpinnen"? Kann jede Person einfach Text in Richtung Wand werfen oder wie sieht eine gute partizipative Visualisierung in virtueller Realität aus?

Mit vielen Nachfragen und Diskussionen wurden Möglichkeiten von sozialen Situationen in virtueller Realität dargestellt. Unter anderem ging es darum, welche Auswirkungen die Erscheinungsform eines Avatars auf die Teamleistung und Rollenverteilung hat. Die Vortragenden stellten eine laufende Studie dazu vor, ob männliche Avatare eher zur Führungskraft werden als weibliche. Bisher zeigte sich aber vor allem, dass Menschen gerne Avatare haben, die ihnen ähnlich sind. Sie nutzen Möglichkeiten, die sie durch eine andere Erscheinungsform hätten, also häufig nicht von sich aus.

Nicht-verbale Kommunikation basiert zu großen Teilen auf Aspekten wie physischer Attraktivität, Körpersprache, Alter, Kleidung oder die Intonation der Sprache. Bei computervermittelter, schriftlicher Kommunikation kommen andere Faktoren zum Tragen, z. B. digitale Kompetenz, elektronische Signatur, Emoticons, Ausdrucksfähigkeit, Zeitstempel etc. Andere Merkmale spielen in beiden Kommunikationsformen eine Rolle, z. B. Status, Nationalität, Rolle, Grad der Teilhabe oder Geschlecht. Unbewusste Faktoren einer Kommunikation kommen zusätzlich zum Tragen. Dazu gehören individuelle und kollektiven „Programmierungen“, Vorurteile und Stereotypen, Werte und Schlussfolgerungen sowie persönliche Erfahrungen der miteinander kommunizierenden Menschen. 

In diesem Zusammenhang wurde der Frage nachgegangen, inwiefern das Erscheinungsbild eines Avatars Auswirkungen auf die Kommunikation von Menschen hat. Schließlich lässt sich das Erscheinungsbild von Menschen in der virtuellen Realität beinahe beliebig verändern. Dazu stellte Nicola Marsden eine Studie (1) vor, die der Frage nachging, wie Gleichheit im Aussehen von Teammitgliedern und ihren Avataren die Teamleistung beeinflusst. Dabei kam heraus, dass gleiches Aussehen den sozialen Zusammenhalt stärken und die Teamleistung verbessern kann.  

Hierbei kommt der Proteuseffekt zum Tragen, wie in einer Studie (2), die die Beziehung zwischen Stereotypen, dem Erscheinungsbilds des Avatars und dem persönlichen Verhalten von Anwender/innen korrelierte. Im Experiment wurde festgestellt, dass männliche Avatare beim Gegenüber eher weiblich-konnotierte Verhaltensweisen hervorriefen und umgekehrt: weibliche Avatare erzeugten männlich konnotierte Verhaltensweisen. Dies umso deutlicher, je stärker die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Experiments Stereotypen verinnerlicht haben. Auch wenn dies bewusst gemacht wurde, so änderte dies nichts an ihrem Verhalten. Daraus wird der Schluss gezogen, dass Individuen sich nicht darüber im Klaren sind, dass das Erscheinungsbild eines Avatars Einfluss auf ihr Verhalten und ihre Entscheidungen hat. Menschen verhalten sich also konform zu den Erwartungen des Erscheinungsbilds ihres Avatars.

Anhand der Eigenschaft „heilen“ stellte Nicola Marsden dar, dass bei konflikthaften Identitäten die Anwender/innen eher konform mit der Darstellung in der virtuellen Realität gehen. Frauen werden dort eher als Heilerinnen wahrgenommen als Männer, obwohl Männer in der physischen Realität häufiger Heilberufe ausüben. So werden neue Stereotype geschaffen (3). Das wirft weitere Fragen auf: Können Eigenschaften einer realen Personen verändert werden, wenn er einen entsprechenden Avatar mit erwünschten Eigenschaften nutzt? So ist Körpergröße mit Vertrauen und Attraktivität mit Freundlichkeit korreliert. 

Folgende Fragen wurden diskutiert:

  • Was sollte aus Gendersicht bei der Gestaltung von VR für die Praxis beachtet werden? 
  • Wie kann VR geschlechtergerecht gestaltet werden?
  • Welche Anwendungsmöglichkeiten gibt es?
  • Welche Rahmenbedingungen braucht es?
  • Wie können Vergeschlechtlichungen verändert werden?

Dabei versuchten die zwölf Teilnehmerinnen und zwei Teilnehmer, den Bezug zur eigenen Tätigkeit und ihrem Umfeld herzustellen. Die Beantwortung der Fragen gestaltete sich als nicht ganz einfach. Eine Idee zur „geschlechtergerechten Gestaltung“ war beispielsweise, geschlechtslose Avatare, z. B. in Form von Tiergestalten, zu nutzen. 

(1) van der Land, Sarah F., Schouten, Alexander P., Feldberg, Frans, Huysman, Marleen, & van den Hooff, Bart. (2015). Does Avatar Appearance Matter? How Team Visual Similarity and Member–Avatar Similarity Influence Virtual Team Performance. Human Communication Research, 41(1), 128-153. doi:10.1111/hcre.12044
(2) Yee, Nick, & Bailenson, Jeremy N. (2007). The Proteus effect: Self transformations in virtual reality. Human Communication Research, 33(3), 271-290.
(3) Yee, Nick, Ducheneaut, Nicolas, Yao, Mike, & Nelson, Les. (2011). Do men heal more when in drag?: conflicting identity cues between user and avatar. Paper presented at the Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, Vancouver, BC, Canada.

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